III. Toleranz in der christlichen Tradition

Obwohl Toleranz heutzutage nicht selten von christlichen Autoritäten gepredigt wird, ist es wichtig, sich dessen zu entsinnen, dass die Tradition des Christentums von Intoleranz geprägt ist. Im Gegensatz zu den meisten neuzeitlichen Religionen war das Christentum seit den Zeiten von Paulus eine ausschließende Religion, die es ihren Jüngern verbot, andere Götter zu verehren oder sich mit fremden Bräuchen zu befassen. Es war auch eine universalistische Religion, die verkündete, dass sie die einzig wahre Religion für die gesamte Menschheit sei. Das Judentum hingegen war ebenfalls ausschließend, jedoch nicht universalistisch – es war keine religiöse Wahl, die normalerweise jenen, die keine ethnischen Juden waren, offenstand. Im Gegensatz dazu lehrte das Christentum, dass es die einzig gültige Religion für jeden überhaupt sei. Es war eine voluntaristische Religion, die Menschen wählen durften und wählen sollten. Somit war das Christentum auch eine bekehrende Religion, die danach trachtete, Menschen davon zu überzeugen, dass alle anderen Religionen sündig seien, und diese als solche verurteilte.

Jahrhundertelang machte die christliche Kirche die Bekehrung der Heiden, worin sie Menschen aller anderen Religionen einschloss, zu ihrer Hauptmission. Während die Heiden zu bekehren waren, wurden jene, die mit „dem wahren Glauben“ zwar vertraut waren, jedoch in der einen oder anderen Einzelheit die Kirchenlehre kritisch hinterfragten, nicht nur von der Kirche exkommuniziert, sondern auch durch Tod vernichtet (die entschiedene Forderung des heiligen Thomas von Aquin).

Christliche Intoleranz gegenüber allen anderen Religionen wurde erst bei der Reformation abgeschwächt, und auch dann nur allmählich. Die anfänglichen Anzeichen von Toleranz in Mitteleuropa galten zunächst nur für Prinzen; von deren Untertanen wurde verlangt, die katholische oder lutherische Religion ihres Herrschers anzunehmen – nach dem beim Religionsfrieden von Augsburg im Jahre 1555 angenommenen Grundsatz von cuius regio, eius religio [wes das Land, des die Religion]. In den diversen Gebieten, die von der kalvinistischen reformierten Kirche beeinflusst waren, wurde Toleranz anschließend manchmal auf Kalvinisten ausgedehnt, aber die Sekten der sogenannten „radikalen“ Reformation – die Anabaptisten und Hutterer – und später die Sozinianer und Unitarier wurden weiterhin verfolgt, während Atheisten gemäß den Theorien der Toleranz, die sogar von aufgeklärten Philosophen wie zum Beispiel John Locke vorgeschlagen wurden, überhaupt nicht zu tolerieren waren.

Die beste Garantie gegen soziale Spannungen in solch einer religiös pluralistischen Gesellschaft lag nicht in dem Versuch, religiöse Konformität aufzuerlegen, sondern in der Etablierung religiöser Toleranz als Grundsatz, der über die Lehren und den Glauben einer jeden Religion hinausgeht.

Schließlich führten die Grundsätze einer „offenen Bibel“ und „der Priesterschaft aller Gläubigen“, die durch die Reformation verfochten wurden, zur dauerhaften Zermürbung der Anordnungen von Intoleranz, die im traditionellen Christentum verankert waren. Andersdenkende Gemeinschaften erlangten beschränkte Rechte, Gott auf ihre eigene bevorzugte Weise anzubeten. In England war dies unter der Gesetzgebung von William und Mary im Jahre 1689 besonders auffallend. Beschränkungen blieben bestehen und wurden nur allmählich gelockert und schließlich in den folgenden zweihundert Jahren aufgehoben. Allmählich gaben die herrschenden Klassen Europas schließlich die Theorie auf, dass sozialer Zusammenhalt in starkem Maße von der Aufrechterhaltung religiöser Konformität abhänge. Besonders die Vereinigten Staaten von Amerika lernten diese Lektion, wo man eine religiös vielfältige Bevölkerung (unter der sich viele Flüchtlinge vor religiöser Verfolgung in Europa befanden) berücksichtigen musste. Die beste Garantie gegen soziale Spannungen in solch einer religiös pluralistischen Gesellschaft lag nicht in dem Versuch, religiöse Konformität aufzuerlegen, sondern in der Etablierung religiöser Toleranz als Grundsatz, der über die Lehren und den Glauben einer jeden Religion hinausgeht. Im Gegensatz zu den alten europäischen Annahmen der Notwendigkeit religiösen Zwangs wurde in den USA erkannt, dass der Grundsatz der Toleranz für den sozialen Zusammenhalt einer bereits religiös vielfältigen Bevölkerung unerlässlich war. So geschah es, dass man sich in Amerika auf Toleranz und Religionsfreiheit als Grundsätze berief, die einem jeglichen speziellen Religionssystem übergeordnet sind. Gerade die Schaffung eines säkularen Staates, in dem die Regierungsbehörden weder eine Religion etablieren noch Voreingenommenheit für irgendeine Religion gegenüber einer anderen zeigen sollten, wurde zur ersten Garantie für religiöse Rechte.

IV. Kulturgebundenheit in der Definition von Religion
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